Bild, Geste, Erzählung und Farbe

 

Zu den Lithografien von Ute Schätzmüller

 

 

Alle Drucktechniken wurden zunächst dazu erfunden, Texte und Bilder in möglichst großer Auflage und zunehmender Detailgenauigkeit und Farbigkeit herzustellen. Der Versuch, die gedruckten Bilder und Texte in ihrer visuellen Erscheinung von der verwendeten Technik zu emanzipieren, hatte zur Folge, dass sich die Druckwaren als willfähriges und sich hinter den Inhalten verbergendes Medium in unserer Vorstellung einrichteten. Heute stellt sich beim Betrachten einer Druckseite oder eines Bildschirms nurmehr die Frage nach der Gestaltung, aber nicht mehr die Frage nach der Dialektik zwischen den immanenten Möglichkeiten der Drucktechnik zur Bildgenese und der visuellen Erscheinung des Bildes oder Textes.

Das bildmächtigste Druckverfahren im späten 19. Jahrhundert war die Lithografie. Weil die Zeichnung mit Kreide oder Tusche direkt auf den Stein aufgetragen wurde, entfiel die Umsetzung des Bildes durch den Stich in Metall oder das Schneiden von Holz. Mit dem Flachdruck war ein Weg vorgezeichnet, der am Ende zum Druck von Fotografien im Offsetverfahren und zur Vorherrschaft des technischen Bildes führte. Zurück blieben Drucktechniken, die für die industrielle Verwendung uninteressant geworden, allein der Verwirklichung der künstlerischen Imagination noch zweckdienlich sind. Die Welt des gewachsenen und erwachsenden Bildes fand hier ihren maschinellen Elfenbeinturm.

 

Von einer dem Phantastischen zugetanen zeichnerischen Kunst herkommend, wandte sich Ute Schätzmüller der aus handgreiflichem Material entstehenden Malerei als unmittelbarem künstlerischem Ausdruck und der Lithografie als grafischer Technik zu.

Schätzmüller verzichtete beim Steindruck zuerst auf ein wesentliches Element seiner ursprünglichen Bestimmung, nämlich der Vervielfältigungsmöglichkeit. Sie druckt nur Unikate. Also steckt nicht in der Reproduktion eines Bildes als Auflage Schätzmüllers Interesse, sondern in der Art der Bildgenese und Bildkontrolle, die die Lithografie bietet. Ute Schätzmüller bearbeitet den Stein zunächst mit Tusche und Kreide und mit heftiger Gestik in der Art einer informellen Malerei. Allein diese Malerei besteht nur aus Schwarz- und Grautönen und verliert im Arbeitsvorgang der Lithografie zuletzt auch ihr malerisches Flachrelief von »Farbe auf Grund«. Es bleibt ein flacher, mit schwarzen Texturen bearbeiteter Stein. Diese Texturen stellt sich Ute Schätzmüller als landschaftsartige Räume vor, in denen handelnde Figuren auftreten. Diese zeichnet sie mit Fettkreide in die imaginierten Räume hinein oder legt sie in der Weise eines Materialdrucks als zurechtgebogene und mit Druckerschwärze eingeriebene Drahtfiguren auf den Stein.

Es ist also zunächst ein reiner Formvorgang, der in die Anschaulichkeit der Steindrucke von Ute Schätzmüller hineinführt.

Man muss sehen, dass der gestische Zeichenvorgang eine andauernde Tendenz zur Formauflösung, zum Informel und zum Selbstausdruck der materiellen Eigenschaften des Zeichenmaterials hat, während die Figuren, welchen Inhalts sie auch sein mögen, als Form versuchen in sich geschlossene, einfache Formgebilde zu sein. Ute Schätzmüller gelingt es, diese in die »Landschaften« einzuschmiegen und manchmal gleichsam wie »Samen« in den erdhaften und rauen Texturen zu bergen. Dennoch ziehen sie als menschliche Figuren (oder diese erhöhend als mythologische Wesen) unsere Aufmerksamkeit auf sich und verweisen die sie umgebenden Tuschtexturen in die Rolle des Hintergrunds. Es sind immer in sich versunkene, träumende Figuren, die nicht handeln, sondern innehalten, so als spiegelten sie unser Bewusstsein bei der Betrachtung eines statischen, unbewegten Bildes wieder. Es sind ›Träumer von Träumen«, Wartende, Schläfer und Kräfte Sammelnde, die uns hier vor Augen gestellt werden. Dies sind keine Idyllen, sondern intensive Momente der Sammlung und Konzentration vor einer Tat, die hier auf den Lithografien zu sehen sind.

Was dann wirklich in der Erzählung von Blatt zu Blatt geschieht, entfaltet sich in unserer Vorstellungskraft. Die Bilder aus phantastischen Welten sind bei Ute Schätzmüller längst durch jene die Wirklichkeit und die Vorstellungskraft verknüpfenden Bilder aus Dantes »Göttlicher Komödie« oder den Romanen Jules Vernes verdrängt worden. So bildmächtig diese Lithografien auch sind, es ist immer ein gleichsam literarischer Motor in ihnen am Laufen. Deshalb wollen wir von Druck zu Druck das »und dann, und dann…« wissen. Das heißt nicht, dass Ute Schätzmüller uns nicht auch mit einem singulären Blatt, einem Unikat allein lässt. Dennoch sind diese Einzelbilder immer Speicher von gewussten und ungewussten Geschichten. Die Kunst der Formgestaltung steuert bei Ute Schätzmüller auch die Möglichkeiten der Narration, denn nur was im Bild sichtbar wird ist auch Gegenstand der Erzählung. Sie verknüpft auf erstaunliche Weise das künstlerische Sehen eines »Bildes« und das entziffernde Lesen eines »Textes«. Jedoch ist dies eine farblose Welt des Sehens und Entzifferns von Figuren, Dingen und Geschichten. Also tritt für den Abdruck auf Papier die Farbe hinzu.

Die mit schwarzer Tusche gefundene Form auf den Steinen kann mit frei gemischter Druckfarbe auf das Büttenpapier übertragen werden. Die Lithografie bietet der Künstlerin die Trennung und eigenständige Bearbeitung der Form und der Farbe. Damit wird Ute Schätzmüllers grafische Kunst beim letzten Herstellungsschritt eine Kunst der Farbe. Schätzmüller benutzt zumeist sehr gedeckte, mit Weiß und Grau vermischte Farben. Damit wird eine optische Distanz zum Betrachter aufgebaut und das Bild einer lesenden Betrachtung dargeboten. Sehr fein unterscheidend arbeitet Ute Schätzmüller mit der durch dünnen oder dicken Auftrag in ihrem eigenen Charakter und ohne Beimischung veränder- und variierbaren Farbe. Weitere Differenzierung geschieht durch das Übereinanderdrucken von mehreren Drucksteinen und die Fokussierung des Farbverlaufs auf die menschlichen Figuren im Bild hin.

Mithin stellt sich in der farbigen Entwicklung des Bildes und in seinem gestischen Vortrag die in den dargestellten Figuren gespeicherte und ablaufende Geschichte dar. Somit spiegelt sich das Sichtbare des Bildes in unser eigenes Inneres hinein, erhellt und strukturiert unsere Wahrnehmung und unsere Gedanken und Träume. Damit wird das gesehene Bild durch die Gegenüberstellung mit jedem einzelnen Betrachter auf je einzigartige Weise lebendig und genießbar.

                                                                                                                                                            

                                                                                                             

                                                                                                           Prof. Jörg Eberhard

                                                                                                           Folkwang Universität der Künste, Essen

                                                                                                            

  (Katalogtext zur Ausstellung in der Städtischen Galerie Herne Dez. 2012)